Paradies
Dann pflanzte Gott, der HERR, in Eden, im Osten, einen Garten und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. Gott, der HERR, ließ aus dem Erdboden allerlei Bäume wachsen, begehrenswert anzusehen und köstlich zu essen, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.
Gen 2, 8ff.
Schlagen wir die Bibel auf, begegnet uns auf den ersten Seiten eine Art Himmel auf Erden: das Para-dies. Es ist der Ort, an dem die Menschheitsgeschichte angefangen hat. In der christlichen und jüdischen Bibel wird dieser Ort als Garten beschrieben. Die Vorstellung eines ursprünglichen Paradieses gibt es in allen Völker, Religionen und Kulturen. Es ist ein Mythos, eine Utopie, eine gemeinsame uralte Erinnerung im Menschheitsgedächtnis, die sich in frühen Jäger- und Sammlerkulturen genauso findet wie bei afrikanischen Völkern, den Indianern Nordamerikas oder den Sumerern. Der biblische Schriftsteller hatte eine breite Überlieferung, eine lange Tradition des Paradies-Mythos vorliegen, aus der er den biblischen Garten Eden erschaffen konnte. Die Beschreibung des Paradieses und des Sündenfalls sind eine Ätiologie, d.h. eine Begründung, eine sinnstiftende Ursache aus der Vergangenheit, die grundlegende Fragen erklärt: Warum muss der Mensch sterben? Wie kam es zum Bruch zwischen Gott und dem Menschen? Der Verfasser der Genesis verwendet mythische Bilder, um theologische Aussagen zu illustrieren. Das Paradies ist Lebensraum und zugleich Lebensaufgabe des Menschen. Es ist aber kein Schlaraffenland, wo dem faulen Nichtstuer die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Das Paradies ist ein Garten, in dem der Mensch seinen Lebensraum findet: Heimat, Geborgenheit, Ordnung. Hier findet er auch seine Aufgabe: Er soll den Garten bebauen und pflegen. Zum Leben des Menschen gehört auch Arbeit, die den Menschen erfüllt, die Sinn stiftet, in der er seine Fähigkeiten und Begabungen entfalten und entwickeln kann. Aber diese Arbeit im Paradies ist kein mühseliges Ringen im Schweiße des Angesichts, kein Kampf gegen die feindliche Natur und ihre Kräfte, es ist ein Schaffen in Fruchtbarkeit und Lebensfülle. Aber dieser Himmel auf Erden hört auf. Der paradiesische Urzustand des Menschen hält nicht lange an. Der Mensch übertritt das Gebot Gottes und isst die Frucht vom Baum der Erkenntnis. Mit der Erkenntnis von Gut und Böse ist nicht unbedingt das Erkennen des sittlich Guten und sittlich Bösen gemeint. Es geht eher darum, was für den Menschen gut ist und was dem Menschen schadet. Wir können „Erkenntnis“ auch mit „Eigenmächtigkeit“ übersetzen: der Mensch will selbst entscheiden, ob der das Gute oder das Böse will, er emanzipiert sich von Gott, von seiner liebenden Fürsorge, er will sein Leben selbst bestimmen, auch gegen Gott. „Was der Mensch nur mit Gott erreichen konnte (ja erreichen sollte!), das wollte er ohne ihn erlangen. Das kindliche Daheim-Sein bei Gott reichte ihm nicht mehr aus. Er wollte von selbst die Baupläne des Lebenshauses ergründen, das Gott ihm errichtet hatte. Das ist der Hochmut der ersten Sünde: der Wahn, durch irgendeine Technik oder Formel, durch einen bislang verborgenen Trick, durch Nutzung einer unbekannten Methode der Welt auch ihr allerletztes Rätsel zu entlocken und sie damit vom Standpunkt Gottes aus überblicken zu können. Die Ursünde ist der Versuch des Menschen, wenigstens auf dem Weg des Wissens die Grenzen der Geschöpflichkeit zu überwinden.“ (Thomas Marschler) Die Folgen sind furchtbar: Die Gemeinschaft mit Gott zerbricht, Krankheit und Tod treten in die Welt, die Harmonie der Geschlechter wird ebenso gestört wie das Verhältnis des Menschen zur Natur und Tierwelt. Das Leben wird voller Mühsal und Qual – so wie wir es kennen. Das Experiment Gottes hat nicht funktioniert. Der Mensch, dem die Freiheit geschenkt wurde, in Liebe zu Gott zu leben, hat diese Freiheit mißbraucht und sich von Gott abgewandt. Den Himmel auf Erden zu errichten ist unter diesen Umständen unmöglich. Das zeigt auch die Geschichte: bislang ist noch jeder menschliche Versuch, eine ideale Gesellschaft, ein Paradies auf Erden zu errichten, dramatisch und katastrophal gescheitert. Nicht von Menschen, nur von Gott kann uns das Paradies endgültig neu geschenkt werden.