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Elfenbeinerner Turm

    Wie der Turm Davids ist dein Hals, in Schichten von Steinen erbaut; tausend Schilde hängen daran, lauter Waffen von Helden.
    Hld 4,4

    Dein Hals ist wie ein Turm aus Elfenbein. Deine Augen sind die Teiche zu Heschbon beim Tor von BatRabbim. Deine Nase ist wie der Libanonturm, der gegen Damaskus schaut.
    Hld 7,5

    Du starker Turm Davids, bitte für uns.
    Du elfenbeinerner Turm, bitte für uns.
    Lauretanische Litanei

    Wer nur in seinem Elfenbeinturm hockt, hat kein Interesse an anderen und keine Ahnung von der Welt. Er weiss nicht, was draußen vor sich geht und will es auch gar nicht wissen. Allein dem theoretischen Studium seines Fachs verpflichtet, ist er immun gegen gesellschaftliche Entwicklungen. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist der Elfenbeinturm das Sinnbild der Abgeschiedenheit und Weltfremdheit, ja Weltentrücktheit. In diesem Sinne forderten die Studentenschaften bereits 1960 von ihren Professoren und Universitäten den „Abschied vom Elfenbeinturm“. Wie aber ist dieser Begriff als Anrufung der Gottesmutter in die Lauretanische Litanei gelangt? Wie bei so vielen anderen Ausdrücken und Redewendungen finden wir den Ursprung in der Bibel, im Alten Testament, im Hohenlied der Liebe. Es ist ein poetisches Buch, ein langes Gedicht, das in wunderbarer Sprache im Bild von Braut und Bräutigam das Verhältnis Gottes zu seinem auserwählten Volk beschreibt und prophetisch ein zartes Bild der Beziehung zwischen Christus und seiner Kirche zeichnet. An manchen Stellen wollen uns die heiligen Worte fast nicht über unsere prüden Lippen kommen: „Die Brüste sind wie zwei Kitzlein, Zwillinge einer Gazelle.“ Aber auch das eher martialische Bild des befestigten, waffenstarrenden Turms hat hier seinen Ursprung. Das Bild eines mächtigen Bergfrieds erscheint vor dem inneren Auge, einer Zitadelle, dem letzten Zufluchtsort der Verteidiger, wenn die Burg von Feinden überrannt wird. Und ist die Maria, die Hilfe der Christen, nicht wirklich unser letzter Zufluchtsort in den Stürmen dieser Welt? Ein sicherer Halt, ein fester Hafen, Schutz und Sicherheit vor den Anfechtungen des Bösen? Wer heute die Heilige Stadt besucht, findet in der Jerusalemer Altstadt neben dem Jaffator die sog. „Daviszitadelle“. Dieser Turm hat aber historisch nichts mit der antiken Davidsstadt zu tun, die sich südlich des Tempelbergs befand. Dennoch bleibt der „Berg Zion“ ein Bild für die Wohnung Gottes unter den Menschen und in der „Tochter Zion“, ursprünglich eine Personifikation des Volkes Israel, können wir die Gottesmutter erkennen, die in ihrem FIAT die ganze Menschheit vertritt. Maria, von der die Überlieferung berichtet, dass sie genauso wie ihr Bräutigam Josef aus dem Geschlecht Davids stammt, ist aber auch zugleich der schlanke, elegante elfenbeinerne Turm. Aus der liturgischen Welt des Mittelalters kennen wir den „eucharistischen Turm“, ein oft aus Elfenbein gefertigtes, turmartiges Gefäß (turris, turriculus), eine frühe Form unseres Ziboriums, das über dem Altar aufgehängt die eucharistische Speise enthielt; ein Vorläufer des späteren Sakramentshäuschens und heutigen Tabernakels. So ist Maria nicht nur der wehrhafte Turm, sondern auch das von Gott gebenedeite Gefäß, in dem sich der Herr eine Wohnung bereitet hat, um in diese Welt zu kommen. Und auch heute empfangen wir Christus, den eucharistischen Herrn, aus ihrer milden Hand.