Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Bruder, lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen!, während du selbst den Balken in deinem Auge nicht siehst? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; dann kannst du zusehen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.
Lk 6,41f.
Die Vergebung der nach der Taufe begangenen Sünden wird durch ein eigenes Sakrament gewährt; dieses heißt Sakrament der Umkehr, der Beichte, der Buße oder der Versöhnung.
KKK 1486
Das beginnende 20. Jahrhundert war geprägt von einem ausgesprochen optimistischen Glauben an den Fortschritt, an die immer weitergehende, segensreiche Entwicklung von Wissenschaft und Technik. Das Symbol dieser Einstellung schlechthin war das 1912 in Dienst gestellte, damals größte Schiff der Welt: Die Titanic. Jeder kennt die tragische Geschichte ihres Untergangs während der Jungfernfahrt, der über 1500 Menschen in die eiskalte Tiefe des Nordatlantiks riss. Das als unsinkbar geltende Symbol menschlicher Ingenieurskunst kollidierte mit einem Eisberg. Ein Eisberg ist deshalb so gefährlich, weil ca. 90 Prozent seiner Masse sich unter Wasser befinden und somit nicht sichtbar sind. So wird der Eisberg zu einem treffenden Bild für die Unfähigkeit des Menschen, sich selbst und insbesondere die eigenen Schwächen, Sünden und Fehler realistisch einzuschätzen. Wenn es um unsere Schuld geht, haben wir eine Art blinden Fleck: Wir sehen nur 10 Prozent, die große Masse bleibt uns verborgen. Jesus meint das gleiche, wenn er davon spricht, dass wir den Splitter im Auge des Bruders sehr gut wahrnehmen können und gleichzeitig nicht merken, dass uns selbst ein riesiger Balken im Auge steckt.
Wenn ich Menschen auf die Beichte anspreche, ernte ich zwei Reaktionen: Herr Pastor, so viel Zeit haben sie gar nicht! oder: Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich bin doch ein guter Mensch. Hier haben wir diesen blinden Fleck. Das in der Bibel prominenteste Beispiel für diese Unfähigkeit, die eigene Schuld zu erkennen, ist König David. Der von Gott auserwählte, fromme König, der als Urheber der Psalmen gilt, war der schönen Batseba verfallen und begann ein Verhältnis mit ihr. Deren Mann Urija kämpfte währenddessen für seinen König an der Front. Als Batseba schwanger wurde, ließ David den General zurückrufen, versuchte ihn betrunken zu machen, damit er das Lager mit seiner Frau teilte. Als der ehrenhafte Urija jedoch in der Kaserne übernachtete, befahl David, man solle ihn an der Front im Stich lassen. Als sich seine Kameraden während heftiger Kämpfe überraschend zurückzogen, wurde Urija von Feinden überwältigt und fiel. Und bei alledem war bei König David nicht das geringste Schuldbewußtsein festzustellen! Das ist der berühmte blinde Fleck. Erst als der Prophet Natan König David zur Rede stellt, kann dieser seine Schuld erkennen. Erst in der Konfrontation mit dem Gottesmann wird der blinde Fleck überwunden und David kann um Vergebung bitte. Fühlen wir uns nicht manchmal wie die Titanic? Groß, herrlich, strahlend, gut, unsinkbar? Ab und zu haben wir eine Kurskorrektur nötig, damit wir nicht mit den Eisbergen unseres Lebens kollidieren. Ab und zu brauchen auch wir die Begegnung mit einem Gottesmann, mit einem Priester, im Beichtstuhl oder im Beichtgespräch, damit wir auch die 90 Prozent erkennen können, die sonst unter unserem Radar bleiben. Und keine Sorge: In mehr als 20 Jahren habe ich nie erlebt, dass ein auch sehr ausführliches Beichtgespräch länger als eine Stunde dauerte. Soviel Zeit hat jeder. Und wer nicht weiß, was er sagen soll, vertraut sich einfach dem Beichtvater an. Er weiß schon die richtigen Fragen.